Das Wissenschaftskolleg nach dem Vorbild des amerikanischen Princeton lädt exzellente Gastwissenschaftler:innen aus aller Welt im Rahmen der Exzellenzstrategie der Universität Hamburg ein. In einem Zeitraum von drei bis zehn Monaten forschen die Fellows in Hamburg, über ein Tandem-Prinzip erhalten sie einen direkten Zugang zur hiesigen Wissenschafts-Community. Leone ist seit September 2024 in der Hansestadt, seit Anfang des Jahres auch seine Frau und seine 16 Monate alte Tochter. Um die besten Köpfe der akademischen Welt zu gewinnen, heißt das HIAS auch die Lebenspartner:innen und Kinder der Fellows in Hamburg willkommen, organisiert Schul- oder Kita-Plätze und bringt die Familien im Gästehaus der Universität Hamburg unter. So können sich die Fellows ganz auf ihre Forschungsprojekte konzentrieren. In Leones Fall: die Möglichkeiten der autonomen Gesichtserkennung und die Reaktion der Hamburger:innen darauf. „Mich interessiert vor allem die Balance zwischen KI-Begeisterung und Skepsis. Gerade in Deutschland ist der Schutz von Privatsphäre und Zivilrechten besonders ausgeprägt. Entsprechend ist der Einsatz von Kameras im Stadtbild stark reglementiert und es ist interessant zu sehen, wo sich entsprechende Systeme finden und was sie dürfen.“
„Das Potenzial künstlicher Intelligenz ist kaum zu überschätzen“, betont Massimo Leone. Das Spektrum reiche von einer optimal gesteuerten Bewässerung in der Landwirtschaft über Gefahrenprognosen bis hin zur Identifikation von Krankheiten, die KI-Anwendungen im Gesicht von Menschen erkennen können. Und eben dieses Gesicht im Kontext von KI ist eines von Leones Spezialgebieten. Der Professor für Kommunikationsphilosophie, Kultursemiotik und visuelle Semiotik von der Universität Turin forscht bereits seit rund zehn Jahren zum Thema ‚The Meaning of the Face in the Digital Age‘. Dabei wird er unter anderem durch das European Research Council (ERC) mit zwei Millionen Euro gefördert. In Hamburg konzentriert sich der renommierte Wissenschaftler aktuell auf den Aspekt der automatischen Gesichtserkennung im öffentlichen Raum – als Fellow am Hamburg Institute for Advanced Study (HIAS).
Das bietet das HIAS

Hamburg und KI
In Shanghai etwa, wo Leone ebenfalls lehrt, reicht ein Gesichts-Scan am Kaffeeautomaten und schon sprudelt das gewünschte Getränk, erzählt er. In Hamburg ist ein solch weitgehender Einsatz kaum denkbar. Stattdessen finden sich Systeme etwa am Flughafen, wo die KI den Check-in-Prozess beschleunigt sowie in verschiedenen Stadtteilen, in denen Videoüberwachung die Sicherheit erhöhen soll. Auch der HVV plant ein Pilotprojekt zur KI-gestützten Mustererkennung in der Videoüberwachung, um sicherheitskritische Situationen schneller zu erkennen. Wie beurteilt Leone nun die Einstellung der Hamburger:innen gegenüber KI? „Ich war überrascht, wie offen und positiv das Thema behandelt wird. Hier werden Gefahren bewusst thematisiert, aber zugleich die Möglichkeiten und Chancen gewürdigt und vorangetrieben.“

Internationaler KI-Umgang
Ein solch ausgewogener Ansatz findet sich nicht überall, weiß Leone, der als Gastprofessor an Universitäten auf allen fünf Kontinenten Erfahrungen gesammelt hat. Er hebt besonders die sehr unterschiedlichen Ansätze zum Einsatz von KI in den USA und China hervor. „Während in China der Staat die Technologie stützt und zur politischen Kontrolle nutzt, treibt in den USA der Markt den Einsatz von KI voran. Hier sind große Unternehmen führend bei der Entwicklung.“ Gerade erst haben sich die Unternehmen Open AI, Softbank, Oracle und MGX zu dem Projekt Stargate zusammengeschlossen, um in den nächsten vier Jahren bis zu 500 Milliarden Dollar in die amerikanische KI-Infrastruktur zu investieren. „Die beiden Ansätze führen uns zu der Frage: Wie reagieren wir als Europa?“, so Leone. Sein Wunsch: „Wir entwickeln Alternativen. Etwa ein europäisches Smartphone oder Social Network, das der europäischen Kultur entspricht.“
Ethik als selbstverständlicher Faktor
Dabei sollte die zugrundeliegende KI sorgfältig durchdacht und verantwortungsvoll entwickelt werden, betont Leone. „Entwickler:innen brauchen eine Vorstellung davon, was für eine Gesellschaft wir wollen. Ethik darf nicht als begrenzendes Element verstanden werden, sondern als selbstverständlicher Faktor.“ Um das zu realisieren, wäre ein interdisziplinäres Entwicklungsteam ideal, findet der Professor. So könnte neben technischem etwa auch philosophisches Know-how in die Entwicklung einfließen.

HIAS: internationaler Knotenpunkt
Je mehr Perspektiven, desto kreativer das Team – das erlebt Leone gerade im HIAS, wo er noch bis Juni 2025 als Fellow forschen wird. „Hier kommen echte Koryphäen der Wissenschaft zusammen und diskutieren auf Augenhöhe. Das führt zu einer ausgesprochen kreativen Atmosphäre.“ Das ist kein Zufall. „Wir achten bei der Zusammenstellung der Fellows auf einen möglichst diversen Mix aus wissenschaftlichen Fachrichtungen, Karrierestufen und Herkunftsländern“, erklärt HIAS-Generalsekretär Christian Suhm. Das sei eine wesentliche Voraussetzung für inspirierende Diskussionen – innerhalb der Kohorte, aber auch im offenen Austausch mit der Gesellschaft. „Wir wollen eine Art Knotenpunkt sein, um internationales Wissen nach Hamburg zu bringen und Hamburg-Wissen in die Welt hinauszutragen.“ So wirkten die inzwischen rund 85 HIAS-Fellows als Hamburg-Botschafter. „Der Ansatz funktioniert. Hamburg wird als Wissenschaftsstandort immer bekannter und die Anzahl der Bewerber:innen steigt.“
ys/sb
Quellen und weitere Informationen
Hamburg Institute for Advanced Study (HIAS)
Das HIAS beruft pro Jahr bis zu 20 in- und ausländische Gastwissenschaftler:innen (Fellows) und Kunstschaffende, die über einen Zeitraum von drei bis zehn Monaten an einem selbst gewählten Projekt forschen. Organisatorische und finanzielle Unterstützung sollen eine möglichst große Konzentration auf die Forschung gewährleisten, Tandempartner:innen sorgen für die Vernetzung am Hamburger Wissenschaftsstandort. Getragen wird das HIAS als gemeinnütziger Verein von derzeit neun Hamburger Wissenschaftsinstitutionen, darunter die Universität Hamburg. Die Mitglieder können potenzielle Fellows nominieren, der Großteil kommt aktuell durch Eigenbewerbungen nach Hamburg. In einem mehrstufigen Verfahren werden Fellows ernannt, die aufgrund ihrer diversen kulturellen und fachlichen Herkunft die Hamburger Wissenschafts- und Kulturlandschaft bereichern. In zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen, zum Beispiel „Hamburger Horizonte“, teilen die Fellows ihr Wissen mit der Stadtgesellschaft.
Das HIAS finanziert sich aus Mitteln der Freien und Hansestadt Hamburg, der Universität Hamburg, der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, der Claussen-Simon-Stiftung, der Joachim Herz Stiftung und der Zeit Stiftung Bucerius. Der jährliche Etat liegt aktuell bei etwa 2,2 Millionen Euro.
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