Künstliche Intelligenz

Wie KI die (medizinische) Welt verändern könnte

18. September 2023
KI-Serie (4): Alexander T. El Gammal arbeitet an einem klinischen Assistenten auf KI-Basis. Porträt eines medizinischen Visionärs

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen", fand einst Altkanzler Helmut Schmidt. Und wenn der Arzt selbst der Visionär ist? Alexander T. El Gammal jedenfalls betont: „Ich glaube, dass Künstliche Intelligenz (KI) sehr viele Probleme in der Medizin lösen kann.“ An einer dieser Lösungen arbeitet der Arzt in Weiterbildung zum Allgemeinmediziner und Facharzt für Viszeralchirurgie aktuell zusammen mit Natalie Rotermund und Werner Bogula in der Fachgruppe KI & Health des Artificial Intelligence Centers Hamburg (ARIC): einem klinischen Assistenten auf KI-Basis.

„Hier in Deutschland gibt es medizinische Leitlinien, die für die Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen verbindlich sind, eine Abweichung von diesen Leitlinien muss von dem jeweiligen Arzt stets hinreichend begründet werden. Erstellt und aktualisiert werden diese Handbücher, die pro jeweiliger Erkrankung leicht mehrere hundert Seiten umfassen können, von Expert:innenteams der jeweiligen medizinischen Fachgesellschaften. Und für hausärztlich arbeitende Mediziner wie mich, die ganz unterschiedliche Krankheiten behandeln, bedeutet das viele verschiedene, riesige PDF-Dokumente stets im Blick zu behalten“, erklärt El Gammal und fragt: „Wie wäre es, wenn wir das mit einem Large Language Model digital-interaktiv gestalten könnten?“

Digitaler Sparringspartner für Mediziner:innen

Dem 38-Jährigen schwebt ein System ähnlich wie ChatGPT vor, nur dass es nicht mit extrem diversen Daten aus dem Internet trainiert wird, sondern ausschließlich mit medizinischen Inhalten und zahlreichen Leitlinien. „Dann ließen sich Fragen zur Diagnostik und Behandlung interaktiv beantworten und langfristig könnte daraus eine Art Co-Pilot für junge Mediziner:innen entstehen: Ein digitaler Sparringspartner, der dazu beiträgt, eine möglichst optimale Patient:innenbegleitung zu gestalten.“ Diesen letzten Aspekt betont der KI-Enthusiast ausdrücklich. „So ein digitaler Assistent kann eine wertvolle Unterstützung bieten. Letztendlich muss die Entscheidung über die Behandlung aber immer beim Menschen liegen.“

Dr. med. Dr. rer. biol. hum. Alexander T. El Gammal

Seitenwechsel in die Wirtschaft

Um die rasante Entwicklung innovativer Technik im Medizinumfeld einem größeren Kreis zugänglich zu machen, hat El Gammal zusammen mit Oliver Rößling 2016 das medizinische Innovationsformat 12min.med ins Leben gerufen. Angegliedert an das von Rößling bereits zuvor initiierte Format 12min.me, präsentieren hier Startups und Wissenschaftler:innen ihre medizinischen Innovationen in 12 minütigen Vorträgen und kommen mit potenziellen Investor:innen in Kontakt. El Gammal selbst hat dank solcher Kontakte einen zwischenzeitlichen Seitenwechsel in die Wirtschaft vollzogen – wenn auch nicht ganz freiwillig. „2018 habe ich meinen Facharzt in Viszeralchirurgie gemacht, hatte dann aber einen schweren Bandscheibenvorfall. Das stundenlange Operieren war daraufhin nicht mehr möglich. So bin ich 2019 zu Philips Healthcare gewechselt und habe Kliniken hinsichtlich ihrer Prozessoptimierung beraten und Innovationskonzepte entwickelt“, erzählt der umtriebige Mediziner. Als ihm die ärztliche Arbeit fehlte, begann er eine weitere Facharztausbildung zum Allgemeinmediziner und praktiziert seit April 2022 in Bielefeld in einer Hausarztpraxis.

Innovationsprozesse möglichst vielen zugänglich machen

Hamburg bleibt der Vater einer zweijährigen Tochter trotzdem weiterhin eng verbunden. Mit ARIC-CEO Alois Krtil und Oliver Rößling hat er im vergangenen Jahr die auf KI-Anwendungen spezialisierte Deep-Tech-Firma Caps & Collars Ventures GmbH gegründet und zudem die Projektleitung von AUFBRUCH.Hamburg übernommen, wo er als Innnovationsvermittler die Umsetzung der Regionalen Innovationsstrategie (RIS) Hamburgs den Bürger:innen der Stadt nahe bringen will. „Es ist wichtig, Innovationsprozesse über die jeweiligen Bubbles und Cluster hinauszutragen und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen“, betont El Gammal und bezieht das besonders auf Innovationen im medizinischen Umfeld. „Gerade Mediziner:innen und Wissenschaftler:innen diskutieren immer noch zu oft im geschlossenen Kreis. Dabei sind Impulse von außen so wichtig und wirken inspirierend.“  

AUFBRUCH.Hamburg-Veranstaltung zum Thema „New Work meets Medicine“

Personalisierte Medizin mithilfe von KI

An Inspiration mangelt es dem Wissenschaftler ganz sicher nicht und auch nicht an Engagement, seine Ideen umzusetzen, etwa die von einer personalisierten Medizin mithilfe von KI. „In der Medizin verfolgen wir heute eine Art Breitband-Ansatz. Werden etwa neue Medikamente entwickelt, sollen diese einem möglichst großem Kreis von Patient:innen helfen können.“ KI eröffnet jedoch Möglichkeiten für einen weit individuelleren Ansatz. Bei Krebserkrankungen gilt etwa: Kein Krebs gleicht dem anderen. „Krebs ist eine genetische Erkrankung der Körperzellen, damit ergeben sich theoretisch so viele unterschiedliche Krebserkrankungen wie es verschiedene Arten von Körperzellen und zellwachstumsassoziierte Gene gibt“, weiß El Gammal, der bereits zu verschiedenen Krebsarten geforscht und am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) zu Prostatakarzinomen in der Pathologie medizinisch promoviert hat. Später machte er noch einen weiteren humanbiologischen Doktor im Bereich der Pankreaskarzinomforschung. Für eine optimale Krebsbehandlung müsste jeder Tumor einzeln untersucht und charakterisiert werden, um so zu einer maßgeschneiderten Therapie zu kommen. „Das wiederum würde bedeuten, jede einzelne Patientin beziehungsweisen jeden einzelnen Patienten von einem ganzen medizinisch-wissenschaftlichen Team betreuen zu lassen. Unmöglich zu leisten. Oder?“

KI-Screening mit Computer Vision

Bei diesem „Oder“ setzt El Gammal an. Denn was in der analogen Welt nicht möglich ist, lässt sich mit Hilfe von KI zumindest im ersten Schritt realisieren. „Die Arbeit von Patholog:innen lässt sich durch ein KI-Screening des Tumors mithilfe von Computer Vision unterstützen. Das ermöglicht eine ganz neue Form der Medizin, die deutlich preisgünstiger ist und in der Folge einem größeren Teil der Menschheit zugänglich wird. Ich denke da etwa an Dritte-Welt-Länder“, erklärt El Gammal, der sich zudem für Menschenrechte und Armutsbekämpfung engagiert – bevorzugt mit Hilfe von Wissenschaft und Technik.

KI-Tools werden immer besser

Zwei Schlüsselerlebnissen verdankt El Gammal seine Lust an technischen Innovationen im Allgemeinen und KI im Speziellen. Das eine geht auf seine Forschungen zu Bauchspeicheldrüsenkrebs zurück. Bei Krebserkrankungen mutieren normale Zellen zu Tumorzellen, die sich unkontrolliert vermehren. Bei dem Versuch, dieses Wachstum zu hemmen, spielt die Erforschung von Proteinen, vor allem die Veränderung von Proteinmustern in erkrankten Zellen, eine wesentliche Rolle. „Das geschieht normalerweise in Computer-Simulationen und das auch schon sehr gut. Doch als ich erstmals erlebt habe, wie detailgenau, präzise und schnell das KI-Tool AlphaFold 3D-Modelle von Proteinstrukturen vorhersagen kann, war ich absolut begeistert. Das war ein ungeheurer Fortschritt.“ Das zweite Schlüsselerlebnis ist im Grunde eher eine Vision: die eines medizinischen Universalgelehrten. „Jede:r Forscher:in hat einen Fachbereich, in dem sie beziehungsweise er sich gut auskennt. Aber bei der Fülle des medizinischen und molekularbiologischen Wissens hat niemand mehr einen kompletten Überblick, wie er bei schwierigen Diagnosen ideal wäre.“

Protein-Strukutur - erstellt mit Visualisierungsprogramm ChimeraX

„Ein KI-Universalgelehrter wäre fantastisch“

Diese Vorstellung begleitet den Tech-Begeisterten schon seit langem. Warum also nicht einen KI-Universalgelehrten schaffen? „Ein neuronales System, das die Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse ordnen und in einen sinnvollen Zusammenhang bringen kann – das wäre fantastisch.“
ys/mm

Lesen Sie auch die weiteren Teile unserer KI-Serie:

Teil 1: IT-Experte Alois Krtil: Hamburg ist ganz klar ein KI-Hotspot

Teil 2: KI-Summit 20223: Doom oder Boom?

Teil 3: Europäisches KI-Gesetz einfach erklärt

Quellen und weitere Informationen

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