Das beginnt bereits mit der richtigen Positionierung des Patienten für die Röntgenaufnahme. Dazu erfasst eine am Röntgengerät angebrachte 3D-Time-Of-Flight-Kamera die exakte Lage des Patienten und des zu untersuchenden Bereiches, beispielsweise ein Sprunggelenk. Erst wenn das Sprunggelenk die ideale Drehung, Neigung oder Beugung für die Aufnahme hat, gibt die KI grünes Licht – buchstäblich. „Wir arbeiten an einer Art Ampelsystem, das dem Röntgenassistenten, der die Aufnahme macht, anzeigt, wann das Sprunggelenk des Patienten im idealen Winkel für die Aufnahme liegt. Anschließend kontrolliert die KI sofort, ob das Foto allen Anforderungen entspricht“, so Martinetz. Die Entwicklung eines KI-gestützten Röntgenassistenten ist ein Verbundprojekt der Radiologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck, der Image Information Systems Europe GmbH, der Pattern Recognition Company GmbH sowie des Instituts für Neuro- und Bioinformatik der Universität zu Lübeck – und eins der Projekte, die vom ZKIL vorangetrieben werden.
In Deutschland werden im Jahr circa 150 Millionen Röntgenbilder aufgenommen. Je besser die Aufnahme, desto sicherer ist die medizinische Diagnose. Zudem spart eine optimale Aufnahme Zeit, Kosten und Ressourcen. „Ist die Qualität der Aufnahme nicht gut genug, muss der Patient erneut einbestellt werden, um das Foto zu wiederholen – mit entsprechendem Aufwand für die Klinik, aber auch für den Patienten, der darüber hinaus einer weiteren Strahlendosis ausgesetzt wird“, skizziert Professor Thomas Martinetz den Hintergrund zum Forschungsprojekt Digitaler Röntgenassistent. Martinetz ist Direktor des Instituts für Neuro- und Bioinformatik an der Universität zu Lübeck und zusammen mit dem Radiologen Professor Jörg Barkhausen Sprecher des Zentrums für Künstliche Intelligenz Lübeck (ZKIL). Für die angestrebte Bildqualität wird der Einsatz intelligenter Systeme erforscht.
KI-basiertes Ampelsystem für Röntgenassistent:innen
Lübecker KI-Ökosystem in der Medizin entwickelt sich
Das ZKIL, 2019 gegründet, hat sich zum Ziel gesetzt, Anwendungslösungen für KI in der Medizin zu identifizieren und sie in Kooperationsprojekten bis zur Marktreife zu führen. Aktuell gehören 43 Institute und Kliniken dem Zentrum an. Die Finanzierung erfolgt vor allem durch die Einwerbung von projektbezogenen Drittmitteln, die sich mittlerweile auf bis zu 30 Millionen Euro summieren. Das Interesse an einer Mitgliedschaft im ZKIL wächst. Lübeck entwickelt sich immer mehr zu einem KI-Ökosystem im Gesundheitswesen. Ein wesentlicher Meilenstein war dabei der Start des KI-SIGS (KI-Space für intelligente Gesundheitssysteme) im Jahr 2020. Auf dieser Plattform bündeln Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen aus Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein ihre KI-Kompetenzen, um gemeinsam Wachstumspotenziale im medizinischen Umfeld zu erschließen – wie den Einsatz von KI in der Radiologie.
Gemeinsamer Datenpool für die KI-Entwicklung
Mit der Marktreife sowie dem Zertifizierungsprozess des Digitalen Röntgenassistenten als Medizinprodukt ist das Forschungsprojekt noch keineswegs abgeschlossen. „Die Idee ist, die Anwendung in die Cloud zu verlegen“, erläutert Martinetz. „So hätten Praxen Zugang, ohne selbst entsprechende Computersysteme vorhalten zu müssen. Zudem wird durch zentrale Updates gewährleistet, dass die jeweils aktuellste Version zur Verfügung steht.“ Und je mehr Kliniken und Praxen den Digitalen Röntgenassistenten nutzen, desto mehr Daten kommen zusammen, mit denen wiederum die KI trainiert werden kann. „Dazu müssen die Daten anonymisiert werden, denn selbstverständlich muss der Datenschutz gewährleistet sein.“ Martinetz ist vom Potenzial der KI in der Medizin überzeugt. Ein Allheilmittel sieht er in den Computeranwendungen bislang hingegen nicht.
KI fehlt das Weltverständnis
„Die Forschung hat im Bereich Deep Learning und dem Verständnis neuronaler Netze wahre Quantensprünge erzielt, aber trotz dieser Fortschritte ist KI in vielerlei Hinsicht immer noch dumm. Es fehlt das Weltverständnis, das menschliche Intelligenz auszeichnet.“ Das Institut für Neuro- und Bioinformatik, dessen Direktor Martinetz ist, erforscht die Prinzipien der biologischen Informationsverarbeitung. Die Wissenschaftler gehen der Frage nach, wie unser Gehirn funktioniert. Die Antwort steht noch aus. „Das Gehirn ist das komplexeste System, das wir kennen. Einer der großen weißen Flecken auf der wissenschaftlichen Landkarte“, heißt es auf der Startseite des Instituts. Solange das Vorbild nicht entschlüsselt ist, bleibt die künstliche Reproduktion schwierig. Nichtsdestotrotz betont Martinetz: „Unsere Anwendungen sind vielleicht noch nicht wirklich intelligent, aber doch schon sehr hilfreich!“
ys/mm