Metropolregion Hamburg

Pilotprojekt: Bergung von Altmunition in Lübecker Bucht

20. August 2024
Bund investiert 100 Millionen Euro. Umweltschutz mit modernster Technologie. Hamburg News sprach mit Seaterra-Geschäftsführer Dieter Guldin

Bomben, Granaten oder Artillerie- und Maschinengewehrmunition – etwa 1,6 Millionen Tonnen Kriegsmaterial liegt auf dem Grund der deutschen Ost- und Nordsee. Das Material aus deutschen Arsenalen, aber auch Munition der Alliierten, wurde nach Ende des zweiten Weltkriegs im Rahmen der Entwaffnung Deutschlands zum Beispiel Schute um Schute in die Lübecker Bucht gebracht und dort versenkt. Eine Methode, die schon nach dem ersten Weltkrieg praktiziert wurde, sodass inzwischen Altmunition von zwei Weltkriegen auf dem Meeresgrund verrottet. Mit schwerwiegenden Konsequenzen: Die Metallhüllen und -hülsen von Bomben und Patronen korrodieren und geben den Sprengstoff frei. Krebserregende und Erbgut schädigende Stoffe können so ins Wasser und über die Nahrungskette – Fische und Muscheln – auf unsere Teller gelangen.

Versenkte Munition würde Güterzug von Berlin bis Paris füllen

Das Bundesumweltministerium (BMUV) hat deshalb ein mit 100 Millionen Euro ausgestattetes „Sofortprogramm Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“ auf den Weg gebracht. „Damit wird ein enormes Problem angegangen“, betont Dieter Guldin. „Würden wir 1,6 Millionen Tonnen Munition auf einen Güterzug laden, würde der von Berlin bis nach Paris reichen“, erläutert der Geschäftsführer von Seaterra, einem Spezialisten für Kampfmittelsondierung und Kampfmittelräumung zu Wasser und zu Land. Das mittelständische Unternehmen mit Standorten im brandenburgischen Wandlitz und dem in der Metropolregion Hamburg gelegenen Seevetal ist üblicherweise gefragt, bevor es an den Bau von Offshore-Windenergieanlagen oder das Verlegen von Unterseekabeln geht. „Doch nun nimmt die Bundesregierung 100 Millionen Euro in die Hand, nicht um eine industrielle Nutzung zu ermöglichen, sondern für den Umweltschutz. Das gab es zuvor noch nie.“ Allerdings sei es auch höchste Zeit, so Guldin. „Wir müssen jetzt handeln, solange die Munition noch intakt genug ist, um geborgen zu werden.“

Seaterra-Geschäftsführer Dieter Guldin in einer Interview-Situation mit Kamera
Seaterra-Geschäftsführer Dieter Guldin

Ziel: ein automatisierter, robotergestützter Prozess

Das BMUV hat für Pilotbergung von zunächst etwa 50 Tonnen Munition in der Lübecker Bucht neben Seaterra, die Hamburger Spezialfirmen Eggers Kampfmittelbergung und Hansataucher beauftragt; koordiniert wird das Projekt von der Hamburger Seascape GmbH, die auf die Planung und Umsetzung anspruchsvoller Großprojekte spezialisiert ist. „Das Pilotprogramm besteht aus zwei Phasen“, erklärt Guldin. „In Phase 1 kommen unterschiedliche Technologien zur Bergung verschiedener Munitionsarten zum Einsatz. Das soll Aufschluss darüber geben, wie am effizientesten geräumt werden kann. Für Phase 2 ist die Entwicklung und der Aufbau einer schwimmenden Industrieanlage vorgesehen, um die geborgene Munition sicher und umweltgerecht zu entsorgen.“ Angesichts der Menge an Kriegshinterlassenschaften sei ein automatisierter, robotergestützter Prozess die einzig sinnvolle Lösung. „Am Ende brauchen wir einen Ansatz, der es erlaubt, im industriellen Maßstab rund um die Uhr zu bergen und zu entsorgen.“ Die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt sollen dazu beitragen, eine solches Gesamtkonzept unter erschwerten Bedingungen auf hoher See sicher zu realisieren.

Bergungskorb voll mit halbverrotteter Munition
Aus dem Meer geborgene Munition

Spezialtechnologie für die Bergung

Seaterra ist im Rahmen des Pilotprojekts verantwortlich für die Bergung von Munitionshaufen, die in einem wilden Mix am Meeresgrund lagern, und von Munitionskisten mit unklarem Inhalt. „Zunächst fahren wir die Fläche ab, um Daten zu sammeln und setzen dazu beispielsweise Magnetometer ein“, erläutert Guldin. Sobald das Gelände sondiert ist, kommen drei Schiffe für die Räumung zum Einsatz, wiederum ausgestattet mit viel Spezialtechnologie, oftmals von Guldin und seinem Team selbst entwickelt. Als zentraler Ausgangspunkt für die Bergung fungiert ein Schiff mit dynamischer Positionierung (DP; auch Dynamisches-Positionier-System/DPS). Schiffe mit DPS können dank eines computergesteuerten Systems zur automatischen Positionierung ohne Ankern oder Festmachen eine Position halten.

Unterwasserroboter zur Bergung von Kleinmunition wird ins Meer herabgelassen
Unterwasserroboter zur Bergung von Kleinmunition

Greifer, Crawler und Taucher 

„Von diesem Ausgangspunkt aus lassen wir ein Kamera- und ein Greifersystem sowie ein Taucherteam hinab, um die Munition zu identifizieren, die sicher handhabbar ist und in Körbe verpackt werden kann.“ Sicher handhabbar sei etwa eine Granate – im Gegensatz zu einer Bombe, die möglicherweise mit einem leicht zu aktivierenden Zünder versehen ist. Etwa 95 Prozent der Bestände seien sicher handhabbar und werden von dem Greifer erfasst, so Guldin. „Der Greifer hängt an einem Kran und wird in die jeweils optimale Greifposition gebracht. Dabei ist der Anpressdruck regulierbar – von 5 bis 250 Kilo – um sanft die verschiedenen Objekte in den Korb zu heben, ohne, dass es zur Explosion kommt.“ Eine solche ‚Sensibilität‘ zu erreichen, sei eine echte Herausforderung gewesen, betont der Experte. Unterstützung erhält der Greifer von einem ferngesteuerten Unterwasserroboter, einem sogenannten Crawler, der den Meeresboden untersucht und kleinteilige Objekte, wie Gewehrkugeln, aufsammelt.

Auf den zwei weiteren Schiffen wird sortiert und dokumentiert. „Für jedes einzelne Objekt, das wir bergen, wird ein eigenes Datenblatt angelegt, erklärt Guldin. „Der Großteil der geborgenen Munition wird zur Vernichtung an Land gebracht und der Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten (GEKA) übergeben.“ Ein Rest werde in ein sogenanntes Nasslager verbracht, um bei ersten Testläufen in Phase 2 entsorgt zu werden.

Greifer wird an Bord für den Bergungseinsatz vorbereitet
Greifer wird an Bord für den Bergungseinsatz vorbereitet

Seaterra: im Hafen und Stadtgebiet im Einsatz

Die Pilotbergung ist der Auftakt zu einem herausfordernden Prozess, der viele Facetten vereint: Sicherheit, Umweltschutz, technologische Innovationen und Prozessdokumentation. Alles andere als ein alltäglicher Auftrag für Seaterra – sofern es überhaupt ‚alltägliche‘ Aufträge in der Kampfmittelräumbranche gibt. Schließlich besteht bei fast jedem größeren Bauprojekt ‚Kampfmittelverdacht‘. „Egal ob eine Schule, eine Kita oder ein Supermarkt gebaut werden soll, als erstes muss gewährleistet sein, dass da nichts Explosives mehr in der Erde steckt.“ Und da steckt jede Menge, weiß Guldin. „Hamburg ist stark bombardiert worden, sowohl im Stadtgebiet als auch im Hafen. Da findet sich noch nach Jahrzehnten reichlich explosives Material.“ Gerade der Hamburger Hafen sei schwer zu sondierendes Gebiet, erklärt der Fachmann. „Das Wasser ist tief, trüb und es herrscht eine starke Strömung.“ Also hat Seaterra spezielle Sondierschiffe entwickelt und setzt auf Drohnen für Uferflächen, Böschungen und trockenfallende Sandflächen. Im Wasser kommen ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge (Remotely Operated Vehicles/ROV) zum Einsatz und natürlich Taucher:innen.

Das Seaterra-Team besteht vor allem aus den Kampfmittelräumern, Feuerwerker genannt, die im Umgang mit Munition trainiert sind und eine sichere Handhabung gewährleisten, sowie Geophysikern. Dazu kommen Taucher:innen, ROV-Piloten, Seevermesser und Softwareentwickler. „Aber wir haben auch einen Doktor der Chemie im Team – und ich bin Archäologe“, so Guldin. Sie alle treibt die Leidenschaft an, die Welt ein Stück weit sicherer zu machen. Das Pilotprojekt in der Lübecker Bucht in der Metropolregion Hamburg ist ein großer Schritt hin zu diesem hehren Ziel. „Wir verfolgen hier einen einzigartigen Ansatz, den es so noch nirgendwo auf der Welt gegeben hat. Das ist ein echter Quantensprung“, betont der Seaterra-Geschäftsführer.
ys/kk/sb

Quellen und weitere Informationen

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