Es gibt über eine Million verschiedene Algenarten – schätzungsweise. „Nachgewiesen sind ungefähr 30.000 bis 40.000 Arten, wovon wiederum nur rund 100 Arten wirtschaftlich genutzt werden“, erklärt Dr. Nils Wieczorek, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Gruppenleiter „Bioökonomie und Bioressourcen“ an der Technischen Universität Hamburg (TUHH). Das lässt viel Raum für Forschung, schließlich sind die Wasserpflanzen als alternative Protein- oder Energielieferanten interessant. Zusammen mit Leonard Francke und Sarah Löhn betreibt der Ingenieur seit Mai eine Algenzuchtanlage im Ziegelwiesenkanal, im Binnenhafen von Hamburg-Harburg. Ihr Forschungsprojekt wird im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts Open T-Shape for Sustainable Development von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre gefördert.
Gesund: Mikroalgen sind reich an Vitaminen, Antioxidanzien und ungesättigten Fettsäuren
Das Herz der 39 Quadratmeter großen Anlage mit einem Produktionsvolumen von 160 Litern ist der Algenreaktor in Röhrenform, in denen die Algen gut gedeihen. Im Falle der TUHH-Anlage sind es Mikroalgen. „Makroalgen sind die, die wir am Strand finden und die Pflanzen ähneln, Mikroalgen sind mikroskopisch kleine Algen, die mit bloßem Auge nicht erkennbar sind“, erklärt Leonard Francke. So klein die Harburger Algen auch sind, sie sind ausgesprochen reich an Vitaminen, Antioxidanzien, ungesättigten Fettsäuren sowie anderen Mikronährstoffen und eignen sich beispielsweise als Futtermittel oder Farbstoffquelle.
Im Rahmen ihres Forschungsprojekts haben die Wissenschaftler*innen zunächst das natürliche Algenvorkommen im Ziegelwiesenkanal analysiert und eine Auswahl der vielversprechendsten Kandidaten vorgenommen. „Das sind diejenigen, die sowohl Hitze- als auch Kältespitzen am besten vertragen und die besonders gut zur Protein- oder Farbstoff-Herstellung geeignet sind.“ Dabei arbeitet das Team ausschließlich mit dem, was die Natur im Kanal hervorbringt. „Wir nehmen keine biotechnologischen Veränderungen vor, das ist angesichts der Algenvielfalt auch gar nicht nötig“, betont Francke.
Nächster Algenreaktor im Industriemaßstab?
Wieczorek, Francke und Löhn betreiben ihre Pilotanlage im Hinblick auf eine Nachfolge-Anlage im Industriemaßstab. „Dazu müssen wir aber erstmal schauen: Lohnt sich der Einsatz für die Industrie?“ so Leonard. Erste Ergebnisse sind vielversprechend. „Unsere Algen weisen mit 35 Prozent einen relativ hohen Proteinanteil und mit 20 Prozent auch einen guten Fettanteil auf und haben sich zudem als widerstandsfähig erwiesen.“ Damit könnten sie sowohl als Energieträger als auch als Nahrungsmittellieferant interessant sein. Wichtig ist dem Team, dass die Harburger Anlage für die Öffentlichkeit zugänglich ist. „Geplant sind QR-Codes, über die Informationen und Videos abrufbar sein werden, aber schon jetzt hat sich die Anlage zu so etwas wie einem Publikumsmagnet entwickelt“, freut sich Wieczorek. Zu viele Forschungsergebnisse blieben auf ewig im Elfenbeinturm ‚eingesperrt‘, die Algenzuchtanlage erlaube einen ganz praktischen Wissenstransfer. Und der ist wichtig, wenn sich die Algenzucht als so vielversprechend entwickelt, wie erhofft.
Algen bieten ein großes Potenzial für die Welternährung
Zumal neben den vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten auch die Rahmenbedingungen für das Thema Algenzucht sprechen. „Anlagen lassen sich auf Brachflächen errichten oder eben auf den zahlreichen Kanälen, die unsere Stadt durchziehen. So lassen sich neue urbane landwirtschaftliche Flächen schaffen, als Ergänzung zur bestehenden Landwirtschaft“, erklärt Leonard. Auch in den Algenprodukten selbst sehen die Wissenschaftler*innen vor allem eine Ergänzung der aktuellen Nahrungsmittel, keinen Ersatz. Jedenfalls noch nicht. „Einen Massenmarkt werden urban produzierte Algen so schnell nicht sättigen können“, glaubt Leonard. Doch das ganz Team ist überzeugt: Mittel- bis langfristig bieten Algen ein riesiges Potenzial für die Welternährung.
ys/sb