„Am Anfang steht ein Beratungsgespräch in dem abgeklärt wird, ob Invirto zur Behandlung des individuellen Angstproblems passt. Das sind vor allem Patienten mit Agoraphobie, sozialer Phobie oder Panikstörung“, erklärt Angern. Wenn es passt, erhält der Patient ein Paket mit VR-Brille, Kopfhörer und den Zugang zur Invirto-App nach Hause geliefert und kann sofort mit der Therapie beginnen. Das bedeutet zunächst weitere Aufklärung: Was steckt hinter dem jeweiligen Angstproblem und wie sehen die Strategien aus, um sie zu bewältigen? „Invirto ist eine Expositionstherapie. Die Patient*innen lernen, sich ihrer realen Angst in einer virtuellen Welt zu stellen“, erläutert Angern. Das Eintauchen in die virtuelle Welt ist für die Patient*innen sicher – schließlich ist sie nicht real.
Angst ist eine normale Reaktion auf Gefahr. Eine Angststörung, oft verbunden mit einem Gefühl des Ausgeliefertseins und körperlichen Reaktionen wie Herzrasen, Schweißausbrüchen oder Schwindelgefühlen, ist jedoch etwas ganz anderes. Laut Statista leiden 25 Prozent aller Menschen mindestens einmal im Leben unter Angststörungen. Corona hat die Situation verschärft: Weltweit sollen weitere 76 Millionen Fälle auf die Pandemie zurückzuführen sein, hat das Gründerteam – Christian und Julian Angern sowie Benedikt Reinke – von Sympatient ermittelt. Für diese Entwicklung hat das Gründerteam eine innovative Lösung entwickelt. Lesen Sie Teil zwei unserer Serie „Zukunftstechnologien in der Medizin“.
„Zwar gibt es fantastische Psychotherapeuten, doch die durchschnittliche Wartezeit bis zum Beginn einer Therapie liegt immer noch bei rund fünf Monaten.“ Viel zu lang, findet Christian Angern. Die von Sympatient entwickelte Invirto-Therapie soll sofort Hilfe bieten. Invirto kombiniert eine psychotherapeutische App und Virtual-Reality-Übungen mit einer realen Begleitung durch Therapeut*innen.
Behandlung von Agoraphobie oder Panikstörungen
Die Kraft der Immersion
Tatsächlich aber ist die durch VR hervorgerufene Immersion inzwischen so überzeugend, dass die virtuellen Sinneseindrücke vom Gehirn als real empfunden werden und die gemachten Erfahrungen daher wirksam sind. Ihre Erlebnisse besprechen die Patient*innen über den Therapieverlauf hinweg per Videosprechstunde mit ihren Therapeut*innen. „Für viele Patient*innen ist es ungemein wichtig zu erleben, dass sie es schaffen, sich einer angstbehafteten Situation zu stellen und etwa einen Supermarkt zu besuchen oder Fahrstuhl zu fahren, ohne in Panik zu geraten“, betont Angern die Bedeutung virtueller Erfolgserlebnisse.
Liegt nun in der digitalen Therapie die Zukunft? Sympatient sieht seinen Ansatz als ein ergänzendes Angebot. „Unser Ziel ist es, Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen durch unsere Digitalanwendung zu unterstützen und zu entlasten, indem wir eine zeitgemäße digitale Psychotherapie anbieten. Wir sehen uns als verlängerter Arm der Behandler*innen, so Angern.
Krankenkasse übernimmt Kosten
Der Trend hin zu digitalen Angeboten jedenfalls nimmt zu. Der eHealth Monitor 2021 der Beratungsgesellschaft McKinsey sieht große Fortschritte bei Telemedizin sowie der Zulassung von digitalen Gesundheitsanwendungen. So habe sich die Zahl der digitalen Sprechstunden 2020 um das 900-fache auf fast 2,7 Millionen erhöht und die Downloads der Top-40-Gesundheits-Apps verdoppeln sich auf 2,4 Millionen. Die Invirto-App von Sympatient, gegründet 2017, hat ihren Ritterschlag Ende 2020 vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erhalten, als die offizielle Zulassung als digitale Gesundheitsanwendung erteilt wurde. Das heißt für die Patient*innen, die Krankenkasse übernimmt die Kosten der Behandlung.
Gute Zeiten für Gründer
Und wie finanziert Sympatient seine Kosten für die kontinuierliche Forschung und Entwicklung? Schließlich arbeitet das Startup aktuell an diversen Erweiterungen der VR-Technologie und nimmt das Verfahren des Biofeedbacks in den Blick, mit dem sich möglicherweise zusätzliche Daten für die Psychotherapie erheben lassen. „Wir stehen gerade mitten in einer weiteren Finanzierungsrunde“, so Angern. Sich um potenzielle Investoren zu kümmern ist für Gründer oftmals wie ein zweiter Vollzeitjob. Doch für viele lohnt sich das Extra-Engagement. Im vergangenen Jahr sind die weltweiten Risikokapitalinvestitionen auf ein neues Rekordniveau gestiegen. 2021 wurden insgesamt 671 Milliarden Dollar in Startups gesteckt – das ist fast doppelt so viel Geld wie im Jahr zuvor (+ 93,5 Prozent) – so das Ergebnis einer Studie der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft KPMG.
ys/kk
Lesen Sie dazu auch Teil 1 unserer Serie: Mit Virtual Reality Phantomschmerzen lindern