So bringe es das chinesische Videoportal Tiktok auf eine monatliche Nutzungsdauer von 23,5 Stunden, weiß Roland Eisenbrand, der als Head of Content bei OMR neben Westermeyer für einen tiefen Brancheneinblick sorgte. Zum Vergleich: Bei Facebook seien Nutzer 11 Stunden, bei Instagram gar nur 8,5 Stunden im Monat online. Das liege auch daran, dass die Aufmerksamkeitsspanne der User:innen extrem sinke – auf nun 0,4 Sekunden. „Einmal blinzeln und der User ist weg“, so Eisenbrand und präsentierte drei Kurzvideo-Superstrategien.
Die digitale Revolution sorgt auch 2023 – knapp 35 Jahre nach dem Start des World Wide Webs – noch für ein ausverkauftes OMR-Festival: Zwei Tage lang präsentierten sich im Rahmen der Marketingkonferenz über 1.000 Aussteller:innen und Partner:innen auf der Expo. Parallel boten mehr als 800 Speaker:innen auf sieben Bühnen und in 240 Masterclasses Programm für gut 70.000 Besucher:innen. Die Hamburg News waren dabei. In Keynotes, Panels, Talks und Live-Konzerten ging es um KI oder die vielen verschiedenen Aspekte digitaler Wettbewerbsfähigkeit, aber auch um Erfolgsgeschichten aus Wirtschaft, Sport und Entertainment. Und natürlich ging es ums Internet. Bei seiner diesjährigen Keynote „State of German Internet“ warf OMR-Gründer Philipp Westermeyer die Frage auf: „Haben wir den Zenit nun erreicht?“ Zumindest lasse sich erstmals kein Wachstum vermelden. „Das Deutsche Internet ist stabil, wenn auch leicht rückläufig.“ Doch auch die amerikanischen Tech-Größen könnten kaum mehr echte Marktanteil-Gewinne vermelden, vielmehr sei eine Fragmentierung des Marktes zu beobachten. Netflix und Disney, aber auch Gorillas oder die Otto Group machen den Platzhirschen Amazon, Apple, Google und Meta Konkurrenz. Und Tiktok erobere sich ein besonders großes Stück des Kuchens.
Drei Kurzvideo-Superstrategien
Superpower #1 Unhinged Content Entertainment
„Unhinged“ übersetzt Eisenbrand mit verrückt, aber auf eine kreative, smarte Weise, und nennt Use Cases aus dem In- und Ausland. So sorge das US-Startup Liquid Death mit Omis, die Trash Metal grölen, für Aufmerksamkeit – „und die verkaufen Wasser!“ Aldi werbe mit Parfüm-Influencer Jeremy Fragrance für den Duft der Discounter-Backwaren und Clancy's Auto Body, ein KFZ-Betrieb in Florida, habe mit seinem 5-Sekunden-Video 55 Millionen Views auf Tiktok erzielt. „Einfach weil er einen lustigen Katzenfilter verwandt hat!“
Superpower #2 Snippification
Diese Strategie sei besonders praktisch, weil sich hier bestehender Content nutzen lasse, findet Eisenbrand. „Einfach ein bereits vorhandenes Video in kleinste Snaps schnitzeln und einen Tag nach dem anderen ausspielen.“ Hornbach habe das Konzept bereits erfolgreich bei Youtube angewandt und wachsendes Interesse generiert.
Superpower #3 Spray & Pray
Viel hilft viel. Die alte Redewendung erlebe eine Renaissance in Videoform. Das kalifornische Startup Tabs Chocolate etwa setze auf selbsternannte Influencer:innen, um seine aphrodisierende Schokolade zu promoten – und zwar auf sehr viele Influencer:innen. „Produziert wird nach dem Motto ‚Quick & Dirty‘. Die meisten Videos erzielen dabei keine nennenswerte Aufmerksamkeit. Aber immer wieder geht einer der Spots viral.“ Und das ist dann ein echter Jackpot für den Hersteller der Sexschokolade.
Westermeyers Branchenanalyse: Gewinner:innen …
Wie immer identifizierte Philipp Westermeyer auch bei der diesjährigen OMR die Glücklichen und die Glücklosen im Jahresrückblick. Sport-Streaming-Dienste seien klar zu den Gewinnern zu zählen. „Der Wert von Sport-Live-Rechten hat immens gewonnen“. Weitere Gewinner seien Climate-Tech-Startups: „Etwa ein Viertel des weltweiten Venture Capital Investments fließt in Ideen in diesem Bereich“ sowie alle, die ‚Prompt Engineering‘ beherrschten. „Das sind die Menschen, die besonders gut Befehle in die Suchschlitze von Chat GPT und anderen Bots eingeben können.“ Für solche Expert:innen seien Gehälter von 300.000 Euro keine Seltenheit.
… und Verlierer:innen
Für die Mitarbeiter:innen der amerikanischen Tech-Giganten hingegen gehen die guten Zeiten zu Ende. Großzügige Bezahlung, Gratisessen und Massagen seien weitgehend passé. Damit kam Westermeyer zu den ‚Verlierer:innen‘, zu denen er auch das Feld ‚Social Media‘ zählte. Zumindest beobachtet der Experte hier ein klares Aus des Sozialen. „Statt persönlichen Inhalten finden sich auf den großen Social-Media-Plattformen nun professionelles Marketing und Entertainment-Content. Das Persönliche ist in Instant-Messaging-Dienste wie Whatsapp abgewandert.“ Und auch die Entwicklung des Metaverse entsprach nicht seinen Erwartungen. Dabei wurde der immersive Raum bei der letzten OMR noch als möglicher nächster Hype diskutiert.
Ersetzt KI nun tatsächlich das menschliche Gehirn?
Und wie sieht es mit dem aktuellen Hype rund um künstliche Intelligenz (KI) aus? Das Thema wurde in zahlreichen Sessions beleuchtet: So sprach Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts, über die Herausforderungen durch neue Produkte wie Chat GPT und Gründer:innen, wie Jonas Andrulis (Aleph Alpha) oder Richard Socher (You.com), über die neuen Möglichkeiten im Zuge der KI-Entwicklung. Digital Entrepreneur Sascha Lobo forderte zudem „durch Deutschland muss ein KI-Ruck gehen“ und appellierte für mehr Mut, um die KI-Transformation voranzutreiben und damit letztlich auch Deutschlands Wohlstand zu sichern. Der Moderator Markus Lanz und Philosoph Richard David Precht wiederum diskutierten die Frage „Wie verändert sich der Mensch im Zeitalter der künstlichen Intelligenz?“ Immerhin erleben wir aktuell eine Zäsur, sind sich beide einig: Wurde bisher die Arbeit der menschlichen Hand automatisiert, ersetze generative KI nun das menschliche Gehirn. „Das wird den Journalismus fundamental verändern“, ist Lanz überzeugt. Doch ersetzen werden KI den Menschen trotzdem nicht, beruhigt Precht. „Das Bedürfnis des Menschen am Menschen wird nie enden.“
ys/sb