Wasserstoff

Industrie – Schlüsselrolle bei Energiewende durch grünen Wasserstoff

30. September 2020
IVH-Vorstandsvorsitzender Matthias Boxberger über Standortvorteile, Praxisbeispiele und Chancen für den Arbeitsmarkt

Grüner Wasserstoff könnte zum Schlüssel für die Energiewende werden. Entscheidend dafür ist die Umstellung von konventionellen Energien auf grünen Wasserstoff in der Industrie. Norddeutschland ist seit langem der Motor der Energiewende und zählt weltweit zu den Industrie-Regionen, die als Produzenten von sauberem Strom punkten. Über Rahmenbedingungen, Chancen und Herausforderungen sprach Hamburg News mit Matthias Boxberger, Vorstandsvorsitzender der Hansewerk AG und des Industrieverbands Hamburg (IVH).

Hamburg News: Lieber Herr Boxberger, die Metropolregion hat sich zum Ziel gesetzt, zum Zentrum der Wasserstoffindustrie zu werden und damit der Energiewende den Weg zu ebnen. Wie stehen die Chancen?

Matthias Boxberger: Norddeutschland bietet aufgrund seiner geographischen Lage sowie der eng verflochtenen Wirtschafts- und Energieversorgungsstruktur einmalige Möglichkeiten, die Herausforderungen der Energiewende zu meistern. Regenerative Energien, allen voran die Windkraft, stehen im großen Umfang zur Verfügung. Das benachbarte Schleswig-Holstein ist mit der Windenergie Vorreiter bei der Nutzung erneuerbarer Energien. Im nördlichsten Bundesland sind erneuerbare Energien mit einem Anteil von 69 Prozent (2019) die wichtigste Stromquelle. Inzwischen übertrifft die Windstromerzeugung rein rechnerisch sogar den gesamten Brutto-Stromverbrauch in Schleswig-Holstein und in wenigen Monaten zusätzlich auch den Hamburgs.

Matthias Boxberger, Vorstandsvorsitzender der Hansewerk AG und des Industrieverbands Hamburg (IVH)

Und genau an dieser Stelle kommt der Wasserstoff ins Spiel – als CO2-freier, vielfältig einsetzbarer Energieträger aus heimischer Produktion („grüner“ Wasserstoff) sowie als Speichermedium für grünen Strom. Denn es kommt darauf an, auch dann eine zuverlässige Energieversorgung zu bieten, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Was so einfach klingt, ist die große Herausforderung, vor der wir stehen, wenn die Energiewende in einer der führenden Volkswirtschaften der Welt gelingen soll. Der Schlüssel liegt in der klugen Erzeugung, Nutzung und Speicherung von grünem Strom.

Hamburg News: Welche Rolle kommt dabei der Industrie zu?

Matthias Boxberger: Mehr als 90 % des heutigen Wasserstoff-Bedarfs kommt von der Industrie. Und: Die Hamburger Industrie ist dabei Partner der Energiewende. Deshalb kommt der Industrie hier auch eine Schlüsselrolle zu, die sie engagiert annimmt. In den Großprojekten zur Entwicklung von großen Stromspeicheranlagen und intelligenten Netzen, um die volatilen Energieflüsse zu regeln, sind rund 60 Industrieunternehmen in Hamburg und in Schleswig-Holstein aktiv. Die Initiativen sind bekannt als NEW 4.0 und als das Norddeutsche Reallabor. Erste Förderzusagen des Bundes sind erteilt und Projekte gehen in die Umsetzung.

Hamburg News: Welche Einzelbranchen könnten jetzt eine Vorreiterposition einnehmen?

Matthias Boxberger: Prädestiniert sind Unternehmen des Energiesektors und der Grundstoffindustrie, insbesondere in der Chemie und Metallerzeugung. In diesen Bereichen sind bereits konkrete Vorhaben im Norden umgesetzt und erste Elektrolyseure für die Erzeugung von grünem Wasserstoff sind im Einsatz. Dabei geht es um die stoffliche Verwendung in industriellen Prozessen – als Substitut für konventionell erzeugten Wasserstoff, was ebenfalls hohe Potenziale für die Einsparung von CO2 bietet, neben dem Thema Stromversorgung.

Hamburg News: Im Juni hat das Bundeskabinett eine nationale Wasserstoffstrategie beschlossen. Doch schon Ende 2019 haben die sich die norddeutschen Küstenländer auf eine eigene Wasserstoffstrategie geeinigt. Was halten Sie von dieser Initiative?

Matthias Boxberger: Die Initiative ist sehr zu begrüßen und es ist wichtig, dass den politischen Zielsetzungen nun konkrete Umsetzungen folgen. Für den Energiesektor kann ich Beispiele aus meinem Unternehmen nennen. Mit unseren Planungen und Projekten liegt die Hansewerk AG ganz auf der Linie der norddeutschen Wasserstoffstrategie. Beispielsweise haben wir im Ideenwettbewerb Reallabore der Energiewende vom Bundeswirtschaftsministerium den Zuschlag dafür bekommen, mit einer Elektrolyseanlage Wasserstoff aus grünem Strom für einen Hamburger Industriepartner zu produzieren und die Anlage zudem systemdienlich einzusetzen; das heißt, sie trägt zur Stabilität des Netzes bei.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller bei der Vorstellung der Nationalen Wasserstoffstrategie 10. Juni 2020

Die geplante Anlage wird so ausgelegt, dass sie die wachsende industrielle Nachfrage im Hamburger Hafen sowie den steigenden Bedarf für Mobilitätsanwendungen bedienen kann. Außerdem werden wir im Rahmen des „Norddeutschen Reallabors“ die Machbarkeit prüfen, einen eigenen großen Erdgasspeicher auf Wasserstoff umzurüsten.

Noch ein Beispiel für Wasserstoff als Ersatz für Erdgas: HanseWerk beteiligt sich an einem Feldtest der Schwestergesellschaft Avacon in Sachsen-Anhalt. Dort wird eine 20-prozentige Wasserstoff-Beimischung in das Erdgasnetz in der Praxis getestet. Der Versuch soll zeigen, dass es machbar ist, Wasserstoff zu einem deutlich höheren Prozentsatz als heute im technischen Regelwerk vorgesehen, in ein existierendes Gasnetz einzuspeisen. Wir glauben, dass das funktioniert. Übertragen auf Hamburg, mit seinem großen und leistungsfähigen Gasnetz, würden sich bedeutende Potenziale für den Ersatz von Erdgas durch grünen Wasserstoff mit erheblichem Nutzen für den Klimaschutz ergeben. Gasnetz Hamburg nimmt hier eine wichtige Vorreiter-Rolle ein.

(v.l.n.r.) Udo Bottlaender (Technischer Geschäftsführer), Senator Jens Kerstan und der Christian Heine (kaufmännischer Geschäftsführer)

Hamburg News: Wie steht es aktuell um den Ausbau einer Infrastruktur für grünen Wasserstoff?

Matthias Boxberger: Ein wesentlicher Schritt zum Gelingen der Norddeutschen Wasserstoffstrategie ist der Aufbau ausreichender Kapazitäten für die Elektrolyse und für Speichermedien. Wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen sind – und dazu zählt insbesondere der energierechtliche Rahmen – dann wird der Aufbau einer grünen Wasserstoff-Wirtschaft die zentrale Säule der Energie- und Verkehrswende werden können. Die technischen Verfahren sind vorhanden, effizient und einsetzbar. Was früher ein Nachteil der Wasserstofftechnologie war, wird jetzt zur neuen Stärke: Der Energieaufwand bei der Wasserstoffproduktion durch Elektrolyse ist deutlich gesunken. Vor etwa 10 Jahren sprachen wir noch von einem Wirkungsgrad von 40%. Heute sind wir bei 70%. Die Forschung geht weiter, den Wirkungsgrad noch weiter zu steigern. Nicht vergessen werden dürfen aber auch andere Infrastruktur-Aspekte in unseren traditionell dicht genutzten Räumen in Hamburg. Gebraucht werden Flächen für Elektrolyse-Anlagen und wichtig ist der Ausbau der Stromnetze vor Ort, um die entsprechenden elektrischen Anschlussleistungen bedarfsgerecht bereit stellen zu können.

Hamburg News: Was könnte getan werden, um der Wasserstofftechnologie schneller und effektiver den Weg zu ebnen?

Matthias Boxberger: Grüner Wasserstoff aus heimischem grünen Strom ist heute deutlich teurer als herkömmlich erzeugter. Weil staatlich induzierte Strompreisbestandteile (Steuern und Abgaben) den Strom zu teuer machen. Das ist seit Jahren bekannt. Der Bund muss das ändern und tut sich noch schwer dabei. Immerhin wurde im Rahmen der jüngst aufgelegten Nationalen Wasserstoff-Strategie dieser Punkt an oberster Stelle adressiert. Jetzt muss die Regierung endlich handeln.

Unsere Hamburger Industrie ist stark daran interessiert, regenerative Energien zu nutzen, wenn diese zu im Wettbewerb vertretbaren Konditionen verfügbar sind. Deshalb drängen wir auf eine baldige Änderung des Ordnungsrahmens für Energie, um Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz zusammen voran zu bringen. Unsere Industrie ist traditionell Motor für Innovationen und Teil der Lösung beim Klimaschutz. Die Hamburger Industrie ist bereits überproportional an der Senkung der Hamburger CO2-Emissionen beteiligt, unter anderem mit ihren IVH-Energieeffizienz-Netzwerken, die zusammen 500.000 Tonnen CO2 pro Jahr freiwillig einsparen. Das Bündnis für die Industrie der Zukunft, das wir am 18. November 2019 gemeinsam mit dem Senat beschlossen haben, wird dies aufgreifen und klimaschutzdienliche Investitionen am Industriestandort Hamburg erleichtern.

Hamburg News: Noch eine letzte Frage: Was bedeutet das Vorantreiben der Wasserstoff-Wirtschaft für den industriellen Arbeitsmarkt in Hamburg?

Matthias Boxberger: Die Industrie ist heute einer der wichtigsten Arbeitgeber der Region. Zum Erhalt und zum Ausbau dieser Arbeitsplätze wollen wir Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz im Einklang voranbringen. Dann hat Hamburg eine gute Zukunftsperspektive. Wasserstoff spielt dabei eine wichtige Rolle. Nicht nur als Energieträger oder -speicher, sondern auch als Know-how-Feld in Forschung und Entwicklung. Außerdem in der Anlagentechnik sowie bei Planung, Bau und Steuerung komplexer Energie- und Produktionssysteme. Hier sehe ich mit Blick auf bereits vorhandene, exzellente Kompetenzträger, wie der Wasserstoff-Gesellschaft Hamburg, die Chance für Hamburg, sich zu einem bedeutenden nationalen und internationalen Wasserstoff-Kompetenzzentrum zu entwickeln. Dies würde auch zusätzliche qualifizierte Arbeitsplätze in der Stadt schaffen.
ys/kk

Das Interview führte Yvonne Scheller.

Quellen und weitere Informationen

Industrieverband Hamburg (IVH)

Der Industrieverband Hamburg (IVH) vertritt die Interessen von produzierenden Unternehmen und deren Partnern am Standort Hamburg und darüber hinaus. Gegründet 1963 ist der IVH die rechtlich selbständige Landesvertretung des Bundesverbands der Deutschen Industrie e.V. (BDI) mit 270 Mitgliedern. 

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