Genaues Hinhören ist inzwischen ein Nebeneffekt des allgegenwärtigen Mund-Nasen-Schutzes. Schließlich dringt die menschliche Stimme eher gedämpft durch die Stoffbahnen. Wer sich jedoch von Simone Techert und Stephan Roth die aktuelle Forschung an der Messstation P03 am Teilchenbeschleuniger PETRA III beim Deutschen Elektronen-Synchroton DESY in Hamburg erklären lassen will, braucht wirklich gute Ohren – dicke Gehörschutz-Kopfhörer sind hier Pflicht. Denn die speziellen Folien, die für das Vakuum in der Experimentierstation sorgen, können platzen. Und das mit einem möglicherweise ohrenbetäubenden Knall.
Super-Mikroskop PETRA III
PETRA III gilt als eine der besten Speicherring-Röntgenstrahlungsquellen der Welt. Das hier erzeugte brillante, intensive Röntgenlicht erlaubt es Forschergruppen aus aller Welt, tief in die Materie ihres jeweiligen Beobachtungsobjekts zu blicken. Dazu werden Elektronen fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und durch spezielle Magnetanordnungen auf einen Slalomkurs gebracht. In diesen Magnetfeldern werden die Teilchen durch die Magnete dazu gebracht, kurze Lichtblitze abzugeben. Das so entstehende, hochbrillante Röntgenlicht macht PETRA III zu einem Super-Mikroskop, das eine Fülle von Anwendungen erlaubt – von innovativen Hightech-Werkstoffen über ultradünne magnetische Schichten zur besseren Datenspeicherung bis zu effizienteren Solarzellen.
Forschung auf Molekular-Ebene
Eigentlich war Simone Techert mit der Forschung an neuartigen Solarzellen beschäftigt, als die Corona-Pandemie an Fahrt aufnahm und die Schreckens-Nachrichten aus Bergamo sie erreichten. „Da dachte ich: Wir müssen was tun!“, so die leitende Wissenschaftlerin der Gruppe Chemische Strukturdynamik bei DESY und Professorin für Ultrakurzzeit-Röntgenphysik an der Universität Göttingen.
Also schwenkte Techert kurzerhand um auf die Erforschung neuer Verabreichungsformen möglicher Corona-Medikamente. Da bei PETRA III auf Molekular-Ebene geforscht wird, war das kein Problem. „Moleküle verhalten sich nach physikalischen Gesetzen – ob nun eine Solarzelle oder ein Medikament das Endprodukt ist.“
Problem: Die teils gravierenden Nebenwirkungen
Unterstützung für ihre Idee erhielt Techert von Stephan Roth, Leiter der Messstation P03 an PETRA III und Professor an der Königlich Technischen Hochschule in Stockholm – inzwischen arbeiten 30 Forscher in Hamburg und Stockholm an dem Projekt. Hintergrund sind die teils gravierenden Nebenwirkungen der aktuell in Frage kommenden Corona-Medikamente. „Ziel ist es, die Wirkstoffe in der für den Patienten exakt idealen Konzentration zu verabreichen und so das Risiko von Nebenwirkungen zu reduzieren. Dabei spielt die Verabreichungsform, der Träger des Wirkstoffs, eine erhebliche Rolle“, erläutert Roth.
Lösungsansatz: Die Kombination mit dem idealen Trägermedium
Mit Hilfe des hochfeinen Röntgenstrahls in PETRA III erforschen die Wissenschaftler Wege, wie sich Wirkstoffe kontrolliert, sehr fein dosiert und gleichmäßig auf geeignete Trägermaterialien aufbringen lassen – eine Grundvoraussetzung, um die verabreichte Dosis exakt zu bestimmen. Dafür testen sie die Reaktion der verschiedenen Wirkstoffe auf den unterschiedlichen Trägermedien. „Je nachdem, ob sich ein Wirkstoff besser mit zuckerartigen Materialien oder mit den Aminosäuren der Proteinträger verbindet, passen wir das Nanometer-dicke Trägermaterial spezifisch an“, erklärt Techert. „Unser Ziel ist es, smarte Carrier für eine kontrollierte Dosierung von wenigen Molekülen bis in den Milligrammbereich hinzubekommen“, fügt sie hinzu.
Der nächste Schritt auf dem Weg zu personalisierter Medizin
Gleichzeitig erforscht das Team, wie sich die Wirkstoffe verhalten, wenn sie auf Oberflächen treffen, wenn also ein Wirkstoff nicht per Injektion oder Tablette verabreicht wird, sondern beispielsweise in den Rachen gesprüht wird. Ziel ist auch hier wieder die Minimierung von Nebenwirkungen. „Beispielsweise könnte die Kristallisation eines Wirkstoffs durch zu hohe Konzentration nicht nur zur Abschwächung der Wirkung führen, sondern sogar gesundheitliche Schäden beim Patienten hervorrufen“, erklärt Roth.
Die Forschung des Projektteams um Simone Techert und Stephan Roth bedeutet zudem einen weiteren Schritt hin zu personalisierter Medizin. „Viele an Covid-19 Erkrankte leiden parallel an anderen Krankheiten“, weiß Techert. Denkbar wäre es also, Wirkstoffe wie Remdesivir, Dexamethason oder Ritonavir/Lopinavir, die aktuell in ihrer Wirksamkeit gegen Covid-19 getestet werden, je nach Diagnose mit weiteren Wirkstoffen zu kombinieren. Bei Bluthochdruck beispielsweise Remdesivir und ein ACE-Hemmer oder Betablocker.
Weitere Forschung in PETRA IV geplant
Ihre Forschungsergebnisse wollen die Wissenschaftler allen frei zugänglich machen. „Wir haben uns gegen die Gründung eines Startups und für Veröffentlichungen als „Open Access“ entschieden“, so Techert und Roth. Die neuen Forschungsansätze werden sie auch langfristig weiterverfolgen und haben sogar Ideen für mögliche Medical Screening-Plattformen in PETRA IV. Dieses DESY-Zukunftsprojekt befindet sich gerade in der Planung, wobei PETRA IV wie ein hochauflösendes 3D-Röntgenmikroskop für chemische und physikalische Prozesse funktioniert: PETRA IV erweitert den Röntgenblick auf alle Längenskalen, vom Atom bis hin zu Millimetern. Forscher können so Prozesse im Inneren eines Katalysators, einer Batterie oder eines Mikrochips unter realitätsnahen Betriebsbedingungen analysieren und Werkstoffe mit Nanostrukturen gezielt maßschneidern. Möglicher Start: 2026.
ys/kk
Quellen und weitere Informationen
DESY zählt zu den weltweit führenden Teilchenbeschleuniger-Zentren und erforscht die Struktur und Funktion von Materie – vom Wechselspiel kleinster Elementarteilchen, dem Verhalten neuartiger Nanowerkstoffe und lebenswichtiger Biomoleküle bis hin zu den großen Rätseln des Universums. Die Teilchenbeschleuniger und die Nachweisinstrumente, die DESY an seinen Standorten in Hamburg und Zeuthen entwickelt und baut, erzeugen das stärkste Röntgenlicht der Welt, bringen Teilchen auf Rekordenergien und öffnen neue Fenster ins Universum.
2017 wurde der größte Röntgenlaser der Welt, der European XFEL, offiziell in Betrieb genommen. Aktuell entsteht in unmittelbarer Nachbarschaft zum DESY-Campus das Innovationszentrum Start-up Labs Bahrenfeld, ein Gemeinschaftsprojekt von DESY, der Universität Hamburg und der Freien und Hansestadt Hamburg. DESY ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands, und wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent von den Ländern Hamburg und Brandenburg finanziert.